Ein Scrabble-Weihnachtsmärchen (2011)
Vor vielen, vielen Jahren gab es in der ländlich geprägten Grenzregion zwischen Elsass und Pfalz ein kleines unscheinbares Kloster mit einer sehr kleinen Kirche.
Das Jahr über nahmen die Menschen kaum Notiz von dieser sehr kleinen Kirche.
Nur zur Christmette kamen Jung und Alt oft von weither mit dem Bus angereist.
Denn es hatte sich herumgesprochen, dass von dem weihnachtlichen Glockenspiel im Turm des Klosters, das nur am Weihnachtsabend zu hören war, ein ganz eigener, leiser Zauber ausging.
Dieses Glockenspiel zu bedienen, war eine ganz besondere Kunst, bestand es doch aus einer Unmenge verschiedener feiner Glöckchen, die nur durch ein kenntnisreiches, virtuoses Werkeln an diversen Strippchen und Fädchen ihr Zusammenspiel und ihre ganz eigene Komposition entfalten konnten.
Ganz so, als würde man den Tautropfen auf einem Spinnennetz eine zarte, wohlklingende Musik entlocken.
Der einzige, der diese Fähigkeit von seinem Vater erlernt und im Laufe seines Lebens perfektioniert hatte, war der alte Küster Kuno.
Nun war aber dieses Jahr just am Vortage des Heiligabends ein Unglück geschehen. Der arme Küster war vollkommen unerwartet im Gefängnis gelandet.
Und das kam so:
Am frühen Morgen war der Bürgermeister des Ortes direkt vor seiner Haustür von einem unbekannten Bösewicht mit einer Axt malträtiert und mit wüsten Hieben in die Lende zu Boden gestreckt worden.
Zufällig war es ausgerechnet Frühaufsteher Kuno, der gerade in Hausnähe unterwegs gewesen war, und der als erster zum Tatort kam und sofort helfen wollte.
Da er aber kaum Krimis zu lesen bekommen hatte, machte er den Fehler, die Axt, die der Übeltäter liegen gelassen hatte, vom Boden aufzuheben – und als die dann herbeieilende Frau des Bürgermeisters ihn mit der Axt bei ihrem Mann stehen sah, hielt sie Kuno offenbar sofort für den Täter, denn sie rief mit großem Holladrio und Beschuldigungstiraden den Ortspolizisten.
Der Bürgermeister aber, zwar angeschlagen, trotzdem noch bei Bewusstsein, wusste eigentlich, dass nicht Kuno, sondern ein anderer ihm das angetan hatte; dennoch hielt er still; er hatte gegen den Küster und seine Rolle ohnehin schon länger einen heimlichen Groll gehegt, und hatte nun – Weihnachten hin oder her – nichts dagegen, den Dingen ihren Lauf zu lassen und sich vorerst auf seine ja durchaus nicht unerheblichen Schmerzen zu konzentrieren.
Und wer weiß, vielleicht hatte er noch andere Gründe über den eigentlichen Übeltäter zu schweigen. Die Lage war also äußerst prekär.
Am meisten sorgte sich die beste Freundin des alten Küsters. Das war die Nonne Katharina. Sie war noch neu in der Gemeinde, der Umzug lag gerade fünfzehn Monate zurück.
Aber sie war entsetzt darüber, dass man Kuno solch eine Tat zutraute.
Und außerdem dachte sie mit Schrecken daran, was wohl all die angereisten Menschen morgen sagen würden, die womöglich vor einem verstummten Glockenspiel stehen mussten und ohne diesen erhofften Weihnachtszauber sicher sehr enttäuscht wären. Schöne Bescherung!
So weit durfte es einfach nicht kommen, aber was war zu tun?
Als die Nonne so verzweifelt sinnierend unter einer Erle saß, spürte sie plötzlich, wie eine sanfte aber doch entschiedene Böe ihr Gewand
und ihre Haube erfasste.
Und als sie aufsah, hatte sie den Duft des Waldes in der Nase und
erblickte direkt vor sich schwebend eine kleinwüchsige mit Moos und Laub geschmückte, wunderschöne, allerdings auch auffällig wohlgenährte Fee.
„Liebe Katharina“, flüsterte das korpulent-transparente Wesen.
„Es gibt nur einen Weg, wie du das Weihnachtsglockenspiel zum Klingen
bringen kannst. Du musst wohl oder übel die Gnome um Hilfe bitten. Nur ihre Hände sind klein genug, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.“
Na, das war ein Vorschlag, mit dem die Nonne Katharina nun genauso
wenig gerechnet hatte wie mit dem Erscheinen einer Fee.
Obwohl sie sonst fast nie fluchte, sprang sie auf und rief entsetzt:
„Diese Saugnome? Diese Gnome, die sonst nur überall Spuren der Verwüstung, Zerstörung und Unfrieden hinterlassen? Ausgerechnet die soll ich fragen? Ausgerechnet die sollen zu einem Weihnachtszauber beitragen können?“
„Es gibt keinen anderen Weg, Katharina“, sagte die Fee leise aber bestimmt. „Du musst dich zur Kate der Gnome aufmachen und sie fragen. Du erkennst die Kate daran, dass eine große Erle dransteht. Oder fehlt dir zu dieser Mission etwa der Mut?“
Und kaum hatte sie diese äußerst provozierende Frage gestellt, verschwand die Fee und hinterließ nur die ihr eigene markante Duftnote und wer genau hinhörte, vermeinte auch noch den Nachhall eines Kicherns zu vernehmen.
Mangelnden Mut – das konnte die Nonne Katharina allerdings auf keinen Fall auf sich sitzen lassen. Und wenn sich nun schon eine sonst nicht zu ihrem Glaubenshorizont gehörige Fee die Mühe gemacht hatte, ihr zu erscheinen, – musste an deren Rat dann nicht etwas dran sein?
Nach einigem Überlegen packte sie also tatsächlich ein kleines Proviantbündel zusammen und machte sich auf den Weg in den Bienwald.
Es dämmerte bereits. Katharina marschierte beherzt drauflos und folgte ihrer Intuition. Gleichzeitig zweifelte sie immer noch bezüglich der Erfolgsaussichten dieses Unternehmens.
Der Wald war flach und ohne Hügel oder sonstige
Erhebungen, jede Lichtung sah gleich aus, die Wege waren verzweigt,
sie gelangte immer tiefer hinein, und bald war es dunkel, und nur ihre kleine Taschenlampe beleuchtete den Pfad.
Nach ein paar Stunden bemerkte sie in einiger Entfernung einen Lichtschein.
War das die Hütte der Gnome?
Sie beschloss, dem Lichtschein zu folgen und tatsächlich machte sie im Näherkommen die Umrisse eines kleinen Holzhäuschens aus, das sich unscheinbar in das Unterholz einfügte.
Kaum 30 Meter davon entfernt vernahm sie plötzlich ein Gurgeln und Plätschern. Und kurz darauf erreichte sie ein ca. vier Meter breites Flüsschen, das sie zum Anhalten zwang.
Sie ging ein wenig am Ufer entlang und leuchtete es ab, um eine günstige Stelle zu finden, an der sie das Wasser irgendwie überqueren konnte.
Nach fünf Minuten bemerkte sie einige Holzbretter am Ufer.
Offenbar hatte es hier früher mal einen Steg gegeben, dessen Reste noch aus den Uferseiten herausragten, der aber entzwei gegangen war.
Während sich Nonne Katharina nun bereits auf ein abendliches Schwimmmanöver einstellte, umwehte mit einem Mal wieder jene bekannte Waldduftnote ihre Nase, und sie konnte mit einigem Erstaunen beobachten, wie die beiden zerschlagenen Stegenden sich auf wundersame Weise zusammenfügten und ihr schließlich doch noch einen trockenen Übergang
ermöglichten.
Skeptisch huschten ihre Füße über das Brücken-Provisorium und schließlich klopfte sie – nicht ganz ohne Herzklopfen – an die verschlossene Tür der kleinen Kate.
Sie hatte die Gnome bisher noch nie leibhaftig gesehen, sondern nur von ihnen gehört und wusste nicht, was für Kreaturen es nun genau waren, die sie hinter dieser Türe zu erwarten hatte.
„Wer da?“ drang eine krächzende Stimme zu ihr hinaus.
Die Nonne zögerte zunächst und nahm dann aber ihren ganzen Mut zusammen:
„Ich bin hierher gekommen, weil der Küster Kuno, den ihr vielleicht kennt, unschuldig im Gefängnis sitzt und wir dringend Hilfe brauchen für das Weihnachtsglockenspiel.“
„Was heißt ‚wir‘? Was geht dich das an?“ ging das Fragen weiter.
„Nun ja, ich bin seine beste Freundin.“
„Wenn du mit uns sprechen und durch diese Tür gelangen willst,
musst du – ähm – sagen wir – zuerst eine kleine Quizfrage beantworten.“ hörte sie nun eine dunklere Stimme beschließen.
„Siehst du den Baum dort an unserer Hütte stehen? Um welche Art handelt es sich, kannst du das erkennen?“
Katharina näherte sich dem Baum, der an der Hütte stand, um seine Blätter näher bestimmen zu können. In diesem Moment griff mit einem gewaltigen Luftzug einer der Äste nach ihr und hätte sie um ein Haar erwischt und mit sich hoch hinauf in die Baumkrone gerissen.
Sofort wich sie erschrocken zurück.
Aber sie erinnerte sich nun wieder an den Hinweis der Fee, dass es sich bei dem Baum ja um eine Erle handelte.
So rief sie durch die Tür „Es ist eine Erle, die eure Hütte bewacht.
Wenn auch eine sehr verhaltenssauffällige Erle.“
Mit einem Knarren öffnete sich daraufhin langsam die Tür und da sich nichts rührte, trat Katharina ein.
Die Gnome waren im Dämmerlicht erkennbar und sahen überraschender Weise genau so aus, wie sie sich Gnome auch immer vorgestellt hatte,- filzige, lange Haare, schrumpelige Gesichtchen mit großen Augen, kurze Beinchen und wuselige, aber kräftige Ärmchen regten sich da. Am meisten überrascht war sie von dem traditionell und fast altmodisch geschmückten Weihnachtsbaum, auf den man offenbar selbst hier nicht verzichten wollte.
Ein Gnom, vermutlich der Obergnom, forderte sie auf, nun die ganze Geschichte zu erzählen.
Nur einmal wurde sie unterbrochen. Als sie von der Axt sprach, keiften die
Wesen wütend, dass der Bürgermeister mit seiner Axt ihren schönen Steg
zerhackt habe. Vor einigen Monaten sei das passiert – und da Gnome ziemlich nachtragend sind, schnaubten sie noch jetzt vor Wut über diesen Frevel.
Von dem Glockenspiel aber hatten sie gehört und zeigten Interesse daran, für den Küster Kuno einzuspringen. Gnome sind nämlich nicht nur nachtragend, sondern auch äußerst ehrgeizig.
Sie bildeten auf ein Zeichen des Obergnoms einige Kleingruppen, verteilten sich so an den größten Spinnweben des Zimmerchens und veranstalteten ein Casting, um herauszufinden, wessen Geschicklichkeit beim Fadenspiel am besten sei.
Allerdings nach altem Gnomgesetz ein Casting ohne überflüssiges Jurygeplapper.
Stattdessen gibt es nur Beobachtungen und vielsagende Blicke.
Nonne Katharina betrachtete das Schauspiel immer noch mit Bauchschmerzen. Da man sie aber gut behandelte und ihr einen Schlafplatz anbot, versuchte sie sich auf die Chance zu konzentrieren, mit all dem doch noch für einen gelungenen Weihnachtsabend sorgen zu können – und schlief schließlich ein.
Am nächsten Morgen hatte sich eine Gruppe von vier Gnomen herausgebildet, die ihr in den Ort folgen und das Glockenspiel meistern sollten. Beim Aufbruch schimpfte die kleinwüchsige Bande noch ein wenig darüber, wie öde doch die Bewohner und das Dorf seien, in das sie sich jetzt ausgerechnet am Weihnachtstag aufmachen mussten – aber schon als sie den auf wundersame Weise reparierten Steg zu Gesicht bekamen, stellten sie ihr übliches Geschimpfe ein und nach wenigen Stunden erreichte das Grüpplein den Ort und das Kloster.
Nonne Katharina achtete darauf, dass niemand die kleinen Wesen zu sehen bekam und schleuste sie auf versteckten Wegen in den Turm hinauf, auf dass sie sich bis zum Abend ein wenig vertraut machen konnten mit der Apparatur des komplizierten Glockenspiels.
Wie Katharina erfuhr, saß Küster Kuno nach wie vor hinter Gittern,
und man konnte nichts tun, als zu hoffen, dass die Ermittlungen vielleicht noch einiges an den Tag bringen würden, was Kuno entlasten konnte. Immerhin war ja auch die Spurensicherung an der Axt als Tatwaffe noch nicht beendet.
Der Heiligabend nahte allen Widrigkeiten zum Trotz wie jedes Jahr und schließlich trafen am frühen Abend die ersten Leute ein, die extra für das alljährliche Klangerlebnis gekommen waren.
Als es um zehn Uhr dann Zeit war und alle Gäste aus nah und fern ihre Ohren erwartungsvoll auf den Turm ausrichteten, geschah etwas Unerwartetes.
Den Blick in den Nachthimmel gerichtet, wurden alle überrascht Zeuge
eines anderen Spektakels. Für die Dauer von nur fünf Sekunden bahnte
sich etwas seinen Weg, das aussah wie ein kleiner Komet, wie eine
Sternschnuppe, ja, fast wie der Stern von Bethlehem, der mir nichts dir
nichts einfach so entschieden hatte, sich mal eben zu zeigen und einen
Geschmack davon zu geben, wie er sich am originalen Weihnachtsabend
vor 2000 Jahren den Menschen gezeigt hatte.
Mit offenen Mündern staunten die Zeugen dieses exklusiven Schauspiels
nicht schlecht.
Katharina musste lächeln, denn sie hatte sich insgeheim erhofft, dass -
wenn die Gnome mit dem Glockenspiel scheitern sollten – sich doch irgendein anderer Weihnachtszauber einstellen würde.
Gleichzeitig war ihr klar, dass man mit solchen extravaganten Wünschen sehr vorsichtig sein musste.
Und als sie das noch dachte, hörte sie jetzt auch noch das sanfte Klingen
aus dem Turm, wie sie es vor einem Jahr zum ersten Mal gehört hatte, und
wie es sich schon so lange bei den Menschen herumgesprochen hatte als
kleines Heiligabendwunder.
Die Gnome hatten ihre Aufgabe also ebenfalls wunderbar erfüllt.
Katharina war glücklich und erleichtert.
Doppelt beschenkt war dieser Abend für alle zu einem ganz besonderen
Abend geworden, von dem man sich auch später noch lange erzählte.
Nur Küster Kuno und auch das Bürgermeisterehepaar hatten von all dem
nichts mitbekommen.
Der erste, weil er nicht konnte und unschuldig seiner Freiheit beraubt war, -
und der Bürgermeister und seine Frau wiederum hatten sich aus anderen
Gründen von der Menge zurückgezogen.
Einer der vier Gnome, denen man zu ihrer virtuosen Leistung noch in der Nacht herzlich gratulierte, kam mit dem Ortspolizisten ins Gespräch und erzählte diesem von der Axt-Attacke des Bürgermeisters, bei der der mühsam errichtete Steg zerstört worden war.
Auf dem Gesicht des Polizisten machte sich daraufhin ein detektivisches
Stirnrunzeln breit.
Noch am ersten Feiertag, so erzählt man sich, hat er bei den Bürgermeisters geklingelt und einige Fragen gestellt. Auf der Axt hatte man nur Fingerabdrücke von Frau und Herrn Bürgermeister und von Kuno gefunden. Und als Küster Kuno bereits am zweiten Feiertag überraschend entlassen wurde, machte eine neue Variante der Geschichte im Ort die Runde.
Aufgrund nächtlicher Eskapaden ihres Gatten hatte die Frau Bürgermeister
unten im Flur immer ein Nudelholz griffbereit deponiert, mit dem sie ihn
gelegentlich zu empfangen pflegte. Nun hatte allerdings eben jener
umtriebige Gemahl am Vorabend einer weiteren Eskapade seine Axt
ahnungslos an genau jene Stelle gestellt, wo die Gattin im Dunklen sonst
nach dem Nudelholz griff. Aus Versehen hatte sie deshalb dieses Mal die
Axt erwischt und ihren Mann über die Maßen zugerichtet.
Dass ausgerechnet Kuno inmitten dieser ehelichen Misere auftauchte und
sich als perfekter Sündenbock anbot, nützten beide Beteiligten schamlos aus, um ihren peinlichen Beitrag zum Geschehen möglichst zu vertuschen.
Allein das Gespräch mit dem Gnom hatte den Ortspolizisten aber schließlich an ihrer Version der Geschichte zweifeln lassen. Und auf die scharfe Frage, ob sich denn nicht vielleicht alles etwas anders zugetragen habe – mit Hinweis auf die Fingerabdrücke der Frau Bürgermeister, antworteten Bürgermeister und Gattin schließlich mit einem zerknirschten, kleinlauten „ja“.
So war also das Weihnachtswunder beinahe lediglich an den schlechten
Zeiten und dem Privatzwist zweier Eheleute gescheitert.
Küster Kuno bekam eine angemessene Entschädigung, – und Nonne Katharina hatte ab und zu noch einen vertrauten Duft von Wald und Moos in der Nase.
Aber sie konnte weder die Hütte der Gnome, die den Ort noch in der gleichen Nacht wieder verlassen hatten, noch Fluss und Steg bei späteren
Waldspaziergängen jemals wiederfinden.
Es kann allerdings passieren, dass, wer heute am frühen Morgen im Wald
unterwegs ist, manchmal den Ansatz eines merkwürdigen Klingens hört;
die alten Leute sagen, das seien die Gnome, die ihre eingeübte Fähigkeit mit dem Spiel an taubesetzten Spinnennetzen ab und zu wieder auffrischen.
Und da, wie wir wissen, Gnome sehr ehrgeizig sind, wäre das ja auch gar
nicht weiter verwunderlich.
(Nach einem Scrabble-Spiel sollte sich jeder durch die gefundenen Wörter
zu einer Geschichte inspirieren lassen und möglichst viele Wörter aus
dem Spiel dafür verwenden. So kam es zur Geschichte von Kuno.)